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Essays zum Thema Stadtwandel
Aus: Nachgeschichten, Vilém Flusser
Unsere Wohnung
Eine tiefe Veränderung unserer Wohnweise ist im Gange. Sie
ist nur mitjener zu Beginn der jüngeren Steinzeit vergleichbar, als die Menschen sesshaft
wurden.
Wir allerdings sind dabei, die Sesshaftigkeit aufzugeben. Immer zahlreicher siedeln
einzelne, aber auch Gruppen über. Die Lage bietet einem distanzierten Beobachter das Bild
eines Ameisenhaufens, der von einem transzendenten Fuss aufgescheucht wurde. Das Phänomen
entspricht nicht einer Rückkehr zum Nomadismus. Roma und Sinti übersiedeln nicht, sie
sind in ihrem Stamm verwurzelt. Wohnen bedeutet nicht, in unbeweglichem Bett zu schlafen,
sondern in gewohnter Umgebung zu leben. Das Heim ist nicht notwendigerweise ein ständiger
Ort, sondern ein vertrauenswürdiger Stützpunkt. Sein Heim verloren zu haben, heisst
nicht, einen Ort verlassen zu haben, sondern in Ungewohntem leben zu müssen, in einer
Umwelt, in der wir uns nicht wiedererkennen. Wir sind in der Übersiedlung, weil sich
unsere Welt bis zur Unkenntlichkeit verändert, weil sie ungewöhnlich und daher
unbewohnbar wurde. Wir können uns daran nicht gewöhnen.
Gewöhnliches wird nicht wahrgenommen. Gewohnheit ist eine undurchsichtige Decke. An der
heimatlichen Landschaft werden nur Veränderungen festgestellt, nicht grundlegende
Gestalten. Wenn wir unsere von Apparaten kodifizierte Welt als ungewöhnlich erleben,
heisst das, dass sich ihre grundlegenden Gestalten verändert haben. Wir sind entwurzelt,
weil sich der Boden, in dem wir wurzelten, tektonisch verschoben hat. Eben das erlaubt
uns, einen von vorangegangenen Generationen nicht einnehmbaren kritischen Standpunkt zur
Welt zu besetzen. Da die Welt nicht mehr vertrauenswürdig ist, da wir darin fremd sind,
können wir, besser als unsere Ahnen, die Lage kritisieren. Aber der kritische Standpunkt
ist keine Wohnung. Man kann, wie Kant wusste, den Zweifel nicht bewohnen. Wir kritisieren
aus Heimweh: Wir sind infolge unserer radikalen Entfrerndung gegenreformatorisch. Die von
Apparaten kodifizierte Welt ist auch deshalb ungewöhnlich und unbewohnbar, weil sie eine
Völkerwanderung hervorruft, welche zusätzlich die Umwelt zur Unkenntlichkeit verändert.
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